Ingolstadt vor 100 Jahren: Justiz und die Ehre eines Offiziers

Im Jahre 1923 wurde der Schriftleiter einer Ingolstädter Zeitung vor Gericht gestellt. Er hatte kritisch über die Reichswehr und einen Offizier berichtet.

Wenn Journalisten nicht “Hofberichterstattung” betreiben, sondern sich mit der Obrigkeit kritisch auseinandersetzen, werden sie gelegentlich wegen Beleidigung oder übler Nachrede oder noch schwererer Delikte angeklagt. Ein bekanntes Beispiel: die “Spiegel-Affäre” im Jahre 1962. Das Nachrichtenmagazin hatte in einem Artikel von Conrad Ahlers behauptet, die Bundeswehr sei nur bedingt abwehrbereit. Dies wurde als Landesverrat betrachtet. Die Redaktion des Spiegel wurde durchsucht, es ergingen Haftbefehle gegen den Redakteur Conrad Ahlers, weitere Redakteure sowie den Herausgeber Rudolf Augstein. Letztendlich wurde gegen die Beteiligten kein Hauptverfahren eröffnet, aber zwei Staatssekretäre und der damalige Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß mussten aus dem Kabinett Adenauer ausscheiden. Es war ein Sieg der Pressefreiheit über die Politik.

Anders lief es im Jahre 1923 Ingolstadt: Der „Ingolstädter Anzeiger“ war mal eine SPD-Parteizeitung. Verleger war die „Buchdruckerei Verlagsgesellschaft Ingolstadt“. Das Blatt hieß im Jahre 1920 zunächst „Ingolstädter Volksblatt“, nannte sich ab Dezember 1921 „Freie Presse“ und wurde im Dezember 1923 in „Ingolstädter Anzeiger“ umbenannt. Die Zeitung erschien täglich, außer an Sonnen-und Feiertagen. Mitte der zwanziger Jahre hatte sie eine Auflage von 2500 Exemplaren. Das Ende kam im Jahre 1933: Am 9. März stürmte die SA das Verlagsgebäude. Am nächsten Tag erschien die Zeitung zum letzten Mal, allerdings inhaltsgleich mit dem NS-Blatt „Donaubote”.

Im Jahre 1922 hatte die „Freie Presse“ in zwei Artikeln nicht gerade wohlwollend über die Reichswehr berichtet. Im ersten Beitrag (vom 12. Januar 1922) wurde behauptet, es habe bei der 5. Kompanie der Reichswehr eine Schrankvisitation stattgefunden. Dabei sei nach dem Vorhandensein der „Freien Presse“ gefahndet worden. Der Visitation sei ein Verbot der „Freien Presse“ vorausgegangen. Es sei seitens der Vorgesetzten das Bestellen einer Zeitung für jedes Zimmer angeordnet worden, dabei seien aber Augsburger und Münchner Zeitungen empfohlen worden. Wörtlich heißt es am Schluss des Artikels: „Wir halten das Verbot nur als den Ausfluss eines überrepublikanischen Offiziers, wie sich heute so viele als Schutz der Republik bezahlen lassen“. Am 11. März 1922 legte das Blatt nochmals nach und berichtete von einem zwischenzeitlich aus der Reichswehr ausgeschiedenen Soldaten, der behauptete, man habe ihm unterstellt, den Artikel vom Januar 1922 durch Weitergabe von Informationen an die Presse lanciert zu haben. Daraufhin habe er in der 5. Kompanie eine wahre Leidenszeit durchmachen müssen. Als er seine Entlassung gefordert habe, habe man ihm geantwortet, er solle das Maul halten. 31 Tage habe er im Arrest verbringen müssen, davon sechs Tage, ohne etwas zu essen zu bekommen. Er sei verdächtigt worden, Kommunist zu sein und einmal verhaftet worden. Seiner Mutter gegenüber habe der Hauptmann Daser erklärt, er könne ihren Sohn wegen Hochverrats unter Anklage stellen lassen.

Wegen beider Artikel wurde Georg Bleier, der Schriftleiter der „Freien Presse“, wegen “Übler Nachrede” gem. Paragraph 186 des Strafgesetzbuches angeklagt. Der Prozess fand vor dem Schwurgericht in Augsburg statt. Im Jahre 1923 gab es in Ingolstadt – im Gegensatz zu Eichstätt – kein Landgericht. Das damalige Schwurgericht ist nicht mit dem heutigen Schwurgericht beim Landgericht zu vergleichen, bei dem schwerste Verbrechen abgeurteilt werden. Bis 1924 handelte es sich bei dem Schwurgericht noch um ein echtes Geschworenengericht. Es wurde 1879 als Laiengericht mit zwölf Geschworenen und drei Berufsrichtern eingeführt. Die Richter- und Geschworenenbank waren getrennt, die Geschworenen entschieden ohne die berufsmäßigen Richter über die Schuldfrage. Erst wenn die bejaht wurde, wurde mit den Richtern zusammen über das Strafmaß geurteilt.

In seinem Plädoyer mahnte der Staatsanwalt die Geschworenen, daran zu denken, dass der Angeklagte nicht einen gewöhnlichen Privatmann beleidigt habe, sondern einen Offizier. Die Autorität der tüchtigen Offiziere – im konkreten Fall die des Hauptmanns Daser – sei zu schützen.Das beeindruckte die Geschworenen überraschenderweise aber nicht. Hinsichtlich des ersten Artikels kamen sie zu dem Ergebnis, dass der Angeklagte nicht schuldig sei. Beim zweiten Artikel befanden die Geschworenen mit sieben zu sechs Stimmen Georg Bleier für schuldig, baten aber um eine geringe Strafe für den Angeklagten.Zu diesem Schuldspruch kam es wohl, weil der Zeuge, also der ehemalige Soldat, auf dessen Angaben der zweite Artikel beruhte, im Prozess nicht alles so bestätigte, wie er es zunächst der Zeitung mitgeteilt hatte. Und natürlich hatte Hauptmann Daser als Zeuge in seinem Sinne ausgesagt. Nur auf die Frage, ob er schon vor dem ersten Artikel geäußert habe, die „Freie Presse” dürfe in der Kaserne nicht gelesen werden, berief er sich auf Erinnerungslücken.

Die Berufsrichter waren an die Entscheidungen der Geschworenen gebunden. Bleier wurde hinsichtlich des Ersten Artikels freigesprochen und wegen des zweiten Beitrags zu einer Strafe von einem Monat Gefängnis und Tragung der Hälfte der Kosten des Verfahrens verurteilt. Insoweit hatte der Staatsanwalt sechs Monate Gefängnis ohne Bewährung gefordert.