Was war: Zum „Steinschneiden“ aus Ingolstadt nach Augsburg

Im Deutschen Medizinhistorischen Museum ist man der ersten chirurgische Klinik Mitteleuropas auf der Spur.

Um es gleich klar zu stellen: In Ingolstadt stand sie nicht, die erste chirurgische Klinik Mitteleuropas, auch wenn hier an Bayerns erster Landesuniversität Medizin gelehrt wurde. Aber Patienten aus Ingolstadt haben damals im 17. Jahrhundert den Weg nach Augsburg auf sich genommen, um sich von „Steinleiden“ befreien zu lassen. Und in Ingolstadt wird derzeit im Rahmen eines Forschungsprojekt der DFG (Deutschen Forschungsgemeinschaft) ein Manuskript erforscht, das womöglich eine medizinhistorische Sensation darstellt: „Ja, es sieht ein bisschen verwahrlost aus,“ gibt Prof. Dr. Marion Maria Ruisinger, Direktorin des Deutschen Medizinhistorischen Museums in Ingolstadt zu.

V.l.: Prof. Dr. Marion Maria Ruisinger, Dr. Annemarie Kinzelbach und Dr. John Wilcockson mit dem “Fugger-Manuskript”, das im Deutschen Medizinhistorischen Museum im Rahmen eines Vortragsabends präsentiert wurde. Seit September ist das historische Schriftstück nun Forschungsobjekt im Rahmen eines DFG Projekts. Foto: Arzenheimer

Nachdem das gebundene Manuskript 2016 von der „Gesellschaft der Freunde und Förderer des Deutschen Medizinhistorischen Museums“ für das DMMI erworben worden war, waren die Wissenschaftler um Prof. Ruisinger zunächst überrascht: „Es gibt keine Titelseite, es beginnt mit mehreren leeren Seiten und es wurden Seiten heraus geschnitten.“ Wieso, weshalb, warum – auch das wird in den kommenden drei Jahren genauer erforscht genauso wie Urheber, Zweck und Ende der „Buchführung“. Die Seiten, die auch einen Inhalt vorweisen können, befassen sich mit Eingeweidebrüchen, die mit oder „ohn ein Schnitt“ behandelt wurden und insbesondere mit einer (schmerzhaften) Problematik, nämlich Blasensteinen. Diese wurden in all ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen gezeichnet (ob maßstabsgetreu oder nicht, werden die Forschungen womöglich ergeben) und mit schriftlichen Hinweisen zu Name, Herkunft und Alter des Patienten versehen: „Martin Wideman von Neuseß bey 36 Jahren“ steht beispielsweise unter dem Bild eines recht wuchtigen Blasensteins. Hinter dem Text kennzeichnet eine kleine Blume, dass jener Martin bei der Behandlung nicht gestorben ist (sonst wäre im Text und auf dem Blasenstein ein rotes Kreuz angebracht worden). Was aber das kleine Blümchen genau aussagen soll, ist noch zu erforschen: Bezieht es sich auf eine verabreichte Arznei? Belegt es eine bestimme Behandlung? Verweist es auf den erfolgreichen Abschluss des Eingriffs?

Patienten reisen von weit her zu den „Steinschneidern“

Für die Historikerin Dr. Annemarie Kinzelbach aus München, die seit Anfang September das Forschungsprojekt bearbeitet, gibt es in den nächsten drei Jahren jede Menge zu ergründen. So widmet sich eine Doppelseite des Manuskripts einem „Patienten“, dem posthum ein massiver Blasenstein exzidiert worden war. Er bereitete Anfang des 17. Jahrhunderts einem Jacob Rupfer, Pater in St. Ulrich (Augsburg), wohl erhebliche Schmerzen. Warum seinem Fall so viel Platz eingeräumt wurde, das wird ebenfalls untersucht wie die vielen sehr kurz gefassten Anmerkungen zu Personen und ihren Leiden.

Auf dieser Doppelseite des Manuskripts wird in der Mitte der Blasenstein des 14-jährigen Sohnes eines Sebastian Dexel aus Ingolstadt vermerkt. Das rote Kreuz bedeutet, dass der Junge den Eingriff nicht überlebt hat. Foto: DMMI / Monika Weber

Mit Hilfe der im Manuskript verzeichneten Namen konnte Dr. Annemarie Kinzelbach aber bereits das Alter des geheimnisvollen Schriftstücks analysieren, denn einige Patienten tauchen auch in den Rechnungsbüchern des Augsburger Schneidhauses (befinden sich im Fugger Archiv in Dillingen) auf, in denen für die Jahre von 1571 bis 1630 rund viertausend chirurgische Patienten namentlich aufgeführt sind. So findet sich auch hier der bereits erwähnte „Martin Wideman von Neuseß“ wieder, der mit seinen 36 Jahren zu den eher alten Patienten gehörte. Meist handelte es sich um Knaben, männliche Jugendliche oder junge Männer, die sich hier behandeln ließen (inwieweit es auch weibliche Patienten gab muss ebenfalls noch untersucht werden).

Mindestens zwei Patienten aus Ingolstadt

Um von den „Steinschneidern“, also den Spezialisten für die Entfernung etwa von Blasensteinen, in Augsburg behandelt zu werden, nahmen Betroffene zum Teil eine weite Anreise auf sich. So sind mindestens zwei Patienten aus Ingolstadt im Buch verzeichnet: der 14-jährige Sohn des Sebastian Dexel, der den Eingriff nicht überlebte und der 20-jährige Niclas Kurz. Letzterer konnte von seinem Leiden befreit werden und im Ingolstädter Stadtarchiv findet sich dazu sogar ein Eintrag aus dem Jahr 1624, in dem es heißt: „Ursula Kurz, Witwe des Sebastian Kurz, erhält ein Interzessionsschreiben auf ihre Bitte hin, dass ihr bresthafter Sohn Niclas, nach Augsburg in das Stift der Fugger aufgenommen wird, um sein Steinleiden nach Operation zu beheben.“ Das Können und die Spezialisierung der Ärzte im Fuggerschen Schneidhaus macht das Thema so interessant. Denn bislang war man nicht man davon ausgegangen, dass es damals zumindest in unseren Breiten solche Spitäler gegeben hat, die auf chirurgische Eingriffe spezialisiert waren. In Augsburg könnte also die erste chirurgische Fachklinik Mitteleuropas gestanden haben.

Tu Gutes und berichte darüber

Wozu wurde das Manuskript überhaupt verfasst? Auch so eine Frage, auf die das Forschungsprojekt hoffentlich eine Antwort gibt. Angesichts der konfessionellen Konflikte in der Entstehungszeit des Buches könnte es sich durchaus um eine Frage der PR gehandelt haben. Wer Gutes tut – noch dazu als guter Katholik -, der sollte auch darüber Buch führen und die Leistungen der Ärzte hervor heben. Gute PR kann einem Spital nicht schaden, daran hat sich bis heute nichts geändert.

Als Anton Fugger (der kurz vor seinem Tod auch an einem Blasenstein litt) 1560 testamentarisch das Schneidhaus gestiftet hatte, sollte damit auch konfessionelle Imagebildung betrieben werden. Seht her, so kümmern wir (Katholiken) uns um Menschen in Not. Das Manuskript hätte dazu dienen können, den vorbildlichen Einsatz für Kranke zu dokumentieren. Als wissenschaftliches Werk eignete es sich nach Meinung von Prof. Dr. Marion Maria Ruisinger eher nicht, denn dazu seien die im Dokument verzeichneten Informationen viel zu oberflächlich.

Und damit ergibt sich auch das Problem des Auftraggebers. Der Vergleich eines Wappens aus dem Manuskript mit den Wappen der Fugger legt nahe, dass ein Mitglieder dieser reichen und mächtigen Familie das Werk erstellen ließ. Aber wer? Aufgrund des Wappens könnte es sich um Antonius Fugger, den vierten Sohn von Georg II. handeln. „Das hat mich zunächst begeistert,“ erklärt Dr. Annemarie Kinzelbach. Aber die Ikonographie passe leider nicht zu dieser Vermutung. Und so hofft sie auf die Unterstützung von Fugger-Spezialisten, um diesen Teil des Rätsels lösen zu können.

Aber theoretisch wäre es auch möglich, dass es Ärzte des Schneidhauses gewesen sind, die das Manuskript verfassen ließen. Man hätte eine beachtliche Erfolgsstatistik vorlegen können (die meisten Patienten haben überlebt) und so auch angesichts einiger Konflikte mit anderen Ärzten eine gute Bilanz vorweisen können. Werbung für das Schneidhaus? Angesichts immer wieder auftretender Wunderheiler kann auch das als Beweggrund nicht ausgeschlossen werden. Fest steht: Zum Ende hin wird das Manuskript immer unvollständiger. So findet man zwar gezeichnete Blasensteine, aber keine Beschriftung mehr. Ob hier der sich anbahnende Dreißigjährige Krieg eine Rolle spielte oder ein Disput zwischen Verfasser und Auftraggeber? Sie ahnen es – auch das ist Thema des Forschungsprojekts.

„Es sah aus, als hätte jemand mit der Schrotflinte auf Augsburg gezielt“

Der Marburger Fachantiquar Dr. John Wilcockson hat das Manuskript an den Freundeskreis des DMMI verkauft. In einem Keller in einer „mittelgroßen Stadt in Hessen“ ist das Dokument unter einer Masse Papier vom Hauseigentümer beim Ausräumen entdeckt worden. Der Keller gehörte zu einer Apotheke und so konnte man dort durchaus Objekte mit Medizinbezug erwarten – aber nicht so etwas! „Es war unbeschreiblich!“ beschreibt Dr. John Wilcockson den Moment, als der das Buch zum ersten Mal in Händen hielt. Beim vorsichtigen Durchblättern fielen ihm die vielen Ortsnamen auf, die in den kurzen Texten erwähnt sind und so kreiste er den Ursprungsort dieses medizinhistorischen Schatzes ein: „Es sah aus, als hätte jemand mit der Schrotflinte auf Augsburg gezielt.“ Er erzählte der Direktorin des Deutschen Medizinhistorischen Museums von seinem Fund und für sie stand sofort fest: „Das ist bayerische Sozialgeschichte. Es gehört nach Bayern und nirgendwo anders hin.“ In Ingolstadt ist man nun froh, dass es nicht bei einem Privatsammler gelandet ist, sondern in Zukunft der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird (übrigens auch digital).

Forschungsprojekt hat begonnen – Ausstellung in Ingolstadt und Augsburg geplant

Die DFG bewilligte dem Museum nicht nur das Forschungsprojekt, das nun erstmals der Geschichte des Schneidhauses nachgeht, sondern gewährte ihm auch Unterstützung für die Sonderausstellung, in der die Forschungsergebnisse abschließend einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert werden – und das nicht nur in Ingolstadt, sondern auch im Maximilianmuseum in Augsburg, das als Kooperationspartner an dem Antrag beteiligt ist. In der Fuggerstadt könnte man gleich doppelt am Ergebnis der Untersuchungen interessiert sein. Zum einen bekäme die nagelneue Medizinische Fakultät der örtlichen Universität einen historischen Vorläufer, zum anderen steht das Jubiläum „500 Jahre Fugger Stiftung“ im Jahr 2021 in Augsburg bevor. In diesem Rahmen von der ersten chirurgischen Klinik Mitteleuropas zu berichten, das hätte seinen Reiz meint Prof. Dr. Marion Maria Ruisinger und schmunzelt: „Die Fugger brauchen auch mal was Neues!“