Geiselhaft, Sippenhaft und Effekthascherei

Im Ferienausschuss des Ingolstädter Stadtrats ging es eigentlich nur darum, ob im Klenzepark ein zeitlich und räumlich begrenztes Alkoholverbot beschlossen werden soll. Doch die Wortwahl linker und ganz rechter Stadträte entbehrte nicht unsinniger Dramatik

Sippenhaft und Geiselhaft im Stadtrat:

Die Weltgesundheitsorganisation rät generell vom Genuss von Alkohol ab, weil es ein unbedenkliches Maß nicht gibt. „Liberale Mediziner“ raten, pro Tag nicht mehr als 20 g (Frauen) bzw. 30 g (Männer) reinen Alkohols zu sich zu nehmen. Eine halbe Bier enthält ungefähr 20 g Alkohol.

Nunmehr beabsichtigt die Stadt Ingolstadt, wegen 40 Straftaten in sechs Wochen im Klenzepark dort ein Alkoholverbot ab 18:00 Uhr einzuführen.

Das empört die Stadträte, insbesondere die ganz Linken und Rechten. Wegen der Straftaten würden viele Unbeteiligte, vor allem Jugendliche, jetzt in ihrer Freiheit eingeschränkt. Von „Geiselhaft“ spricht der Linke Pauling und von „Sippenhaft” der AfD-Mann Lipp. Kein anderer Stadtrat hat diese Äußerungen kommentiert. Offensichtlich bin ich der einzige, der meint, dass sich die beiden Herren hier völlig im Ton vergriffen haben und erschreckende Defizite in Sachen (politischer) Bildung offenbaren. Geht’s noch blöder?

Das veröffentlichte ich bei Facebook und schickte auch eine kurze Meldung bei Twitter in die Runde.

 

Der angesprochene Stadtrat Pauling kommentierte und ich antwortete bei Facebook:

Pauling

Mein Bildungsdefizit machen andere mit Biederkeit wett 😉

Es soll Leute geben, die keine Terrasse haben für ihren Aperol Spritz mit Freunden. Es soll auch Leute geben, die trotz gesundheitsschädlicher Wirkung Dinge tun. Ihr gutes Recht, nicht jeder muss der biopolitischen Optimierung folgen. Zum Glück! Ich habe auf die Beschneidung des sozialen Raumes junger Leute hingewiesen. Man hätte es weniger dramatisch als Kollektivhaftung bezeichnen können, aber es bleibt bei einem repressiven Vorgehen das sich von dem Fehlverhalten einiger ableitet, für die andere nichts können aber gleichwohl betroffen sind. Kann man machen, muss man aber nicht. Ich bin Repräsentant auch von Leuten, die dort abends ein paar Bierchen trinken wollen mit Freunden. Wenn man das blöd findet, fair enough. Aber diese Leute sollten anerkennen, dass wir in einer Demokratie leben und auch andere Leute Bedürfnisse haben, die sich nich nach ihren Vorstellungen richten.

Wir haben einen qualifizierten Alternativvorschlag in Zusammenarbeit mit Streetworkern und Sicherheitskräften vorgelegt, der jetzt in Form eines runden Tisches auch zu Teilen umgesetzt wird für ein Miteinander mit den Menschen, die im Park friedlich feiern wollen und die zu großen Teilen auch an physischer Sicherheit dort interessiert sind.

Ist das blöd oder Arbeit als politischer Repräsentant? 🤔

 

Stimme.in

Wer ein temporäres (nächtliches) Alkoholverbot in einem abgegrenzten Bereich (Klenzepark) als Geiselhaft bezeichnet, der hat keine Ahnung, was eine Geisel zu erleiden hat, die sich in der Gewalt anderer befindet. Hier wird eine geringe Einschränkung der persönlichen Freiheit (es gibt weitere Orte und Lokale in der Stadt, in denen man Alkohol konsumieren kann) mit den Todesängsten von Geiseln verglichen. Das ist eine Beleidigung der Menschen, die so etwas mitgemacht haben. Und über die Opfer der Gewalttaten der letzten Wochen im Klenzepark wird mit diesem dummen Vergleich hinweggegangen. Bemerkenswert auch der Gleichklang des Angriffs auf das temporäre und örtlich begrenzte Alkoholverbot von ganz rechts und ganz links.

 

Pauling

Nett wie man hier ein Wort aus dem ganzen Zusammenhang enthebt, eine Relativierung und Nichtachtung von Gewalt konstruiert und eine Gleichstellung zwischen links und rechts forciert.

Wäre mir die Gewalt egal, hätten wir uns nicht über ein nachhaltiges Konzept zur Gewaltprävention Gedanken gemacht, genauso wie über das Verhältniss von Jugendlichen zum Staat, wenn deren sozialer Raum durch repressive Maßnahmen touchiert wird.

Effekthascherei ist das, was sie hier betreiben.

Wer mich kennt, weiß dass ich keinerlei Gewalt befürworte und das im Gegenteil sehr ernst nehme. Jeder der das tut, dem ist auch klar dass diese Vorkommnisse sozial behandelt und an der Wurzel gepackt werden müssen und nicht durch bloße Ordnungsmacht unter Kontrolle zu bringen sind. Außer man steht auf ein ewiges Katz und Maus Spiel, Eskalation, sowie langfristig explodierende Kosten im Jugendamt und Justizsystem.

Und im Blick haben wir dabei auch Gruppen, die nicht zu einer randalierenden heterogenen Großgruppe gehören, sondern die sich aufgrund fehlender eigener Gärten dort schon lange aufhalten.

Ihr Unverständnis zeugt davon, dass sie noch nie Kontakt mit autoritären Ordnungskräften hatten und dabei äußerlich bei diesen in ein unangenehmes Raster gefallen sind.

Stellen sie sich einfach mal vor man würde sie in ihrem Garten bei einem Dinner mit Freunden in die Auge leuchten, anschreien, ihnen ihren Wein wegnehmen, ihre Taschen kontrollieren und dann eine Strafe aufbrummen. Es soll auch Leute geben, die bei solchen Kontrollen Gewalterfahrungen machen.

Es gibt die und die unter den Beamt*innen, das sollte spätestens nach dem Vorfall letzte Woche bei der BePo eigentlich deutlich geworden sein.

Wir engagieren uns für ein verständnisvolles und konstruktives Miteinander und mit solchen Platten Angriffen und Gleichsetzungen torpedieren sie das und ziehen es ins lächerliche. Wenn sie meinen, dass das Journalismus ist bitte.

Ich breche mir keinen aus der Krone, wenn ich das Wort Geiselhaft als übertrieben bezeichne und mich bei Menschen die in Geiselhaft gesessen sind dafür entschuldige. Sepp ich hoffe du verzeihst mir das. Ich werde noch mehr auf meine Wortwahl achten. 👌

 

Stimme.in

Dass Sie einsehen, dass der Begriff “Geiselhaft” unglücklich gewählt war, ehrt Sie. Um diesen Begriff ging es mir.

Ihre Annahme, ich hätte noch nie mit autoritärer Gewalt zu tun gehabt, ist leider völlig aus der Luft gegriffen. Ich lebte bis zu meinem neunten Lebensjahr in der früheren DDR. Anschließend besuchte ich jährlich meine Verwandten dort. Ich habe also autoritäre Gewalt und zwar die des SED-Regimes, dem einige in Ihrer Partei vielleicht noch nachtrauern oder sie verharmlosen, kennengelernt. Daher bin ich auch etwas empfindlich, wenn in unserem sehr freien Land wegen kleinerer Einschränkungen gleich von “Geiselhaft” oder “Sippenhaft” gesprochen wird. Was diese Begriffe wirklich bedeuten, hätten Sie in der DDR erleben können. Ein harmloses Beispiel: Wenn ihre Eltern zufällig selbstständig und nicht Arbeiter waren, hatten sie größte Probleme einen Studienplatz zu bekommen. Arbeiterkinder wurden ohne Rücksicht auf die gezeigte Leistung in der Schule bei der Vergabe der Studienplätzen bevorzugt. Sie haben also als Studierende unter den Beruf der Eltern gelitten. Das konnte ich in meiner Verwandtschaft (ich war selbst noch zu klein) später erleben. Und was “Sippenhaft” bedeutet, sollten gerade die Mitglieder der AfD mal nachlesen.

Und bevor sie mir “Effekthascherei” vorwerfen, sollten Sie angesichts der Verwendung des Begriffes “Geiselhaft” mal in den Spiegel schauen.

Im Bild: Christian Pauling (Archivbild)

Von Hermann Käbisch